GRIN - Carl Joseph von Trotta in Joseph Roths "Radetzkymarsch" - eine späte Heldenfigur? (2024)

Am besten starb man für ihn bei Militärmusik, am leichtesten beim Radetzkymarsch. Die flinken Kugeln pfiffen im Takt um den Kopf Carl Josephs, sein blanker Säbel blitzte, und Herz und Hirn erfüllt von der holden Hurtigkeit des Marsches, sank er hin in den trommelnden Rausch der Musik, und sein Blut sickerte in einem dunkelroten und schmalen Streifen auf das gleißende Gold der Trompeten, das tiefe Schwarz der Pauken und das siegreiche Silber der Tschinellen. 1 So imaginiert der fünfzehnjährige Carl Joseph von Trotta in Joseph Roths Roman Radetzkymarsch den idealtypischen Heldentod für seinen Kaiser, den er früher oder später zu erleiden überzeugt ist; tatsächlich auch kommt der Hauptakteur am Ende des Romans als junger Leutnant auf einem Schlachtfeld des gerade ausgebrochenen Ersten Weltkriegs um. Jedoch stirbt er „nicht mit der Waffe, sondern mit zwei Wassereimern in der Hand.“2 Stirbt so ein Held? In der umfangreichen Literatur zum Werk Joseph Roths finden sich, wie sich noch ze igen wird, die gegenläufigsten Meinungen, was die Interpretation des Todes von Carl Joseph von Trotta anlangt. Scheible 3 hat darauf hingewiesen, dass dieser Tod nicht isoliert, sondern nur im Kontext der ganzen Lebensumstände und des Werdegangs des Leutnants gedeutet werden kann. Dem ist zuzustimmen, wenn man unterstellt, dass in Roths Hauptwerk4, das dessen „seelische Obsession“5 – nämlich den Untergang seiner geliebten Heimat, der alten Habsburger-Monarchie – zum Thema hat, der schon ziemlich zu Anfang des Romans angedeutete Tod des maßgeblichen Protagonisten nicht irgendeine Episode darstellen kann, sondern in einem übergeordneten Zusammenhang innerhalb des Werks konstituiert sein muss.

Es wird also im Rahmen dieser Arbeit unter anderem zu klären sein, welche Bedeutung die k. u. k. Monarchie für die Familiengeschichte derer von Trotta hat, inwieweit Carl Joseph dadurch geprägt ist bzw. welche anderen Determinanten für seine Persönlichkeit noch vorliegen und inwiefern das in seinem Denken, Fühlen und Handeln Niederschlag findet. In einem zweiten Schritt sollen die im Roman wiederkehrenden Motive auf ihre Funktion hin untersucht werden, um in einem dritten Abschnitt zu prüfen, ob und inwieweit eigene Ansichten Roths, sowohl persönlicher als auch politischer Art, im Roman auszumachen sind. Schließlich soll vor dem Hintergrund der widerstreitenden Forschungsmeinungen der Tod des Leutnant Carl Joseph von Trotta diskutiert werden.

Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

I. Wie stirbt ein Held?

II. Carl Joseph zwischen Familie, persönlichem Umfeld und Historie
1. Die k. u. k. Monarchie..
2. Die sozialen Kontakte Carl Josephs.
3. Der Drang zur Scholle – Carl Josephs Wurzeln

III. Wiederkehrende Motive.

IV. Die Haltung des Autors

V. Der Tod am Bahndamm

Bibliographie

I. Wie stirbt ein Held?

Am besten starb man für ihn bei Militärmusik, am leichtesten beim Radetzkymarsch. Die flinken Kugeln pfiffen im Takt um den Kopf Carl Josephs, sein blanker Säbel blitzte, und Herz und Hirn erfüllt von der holden Hurtigkeit des Marsches, sank er hin in den trommelnden Rausch der Musik, und sein Blut sickerte in einem dunkelroten und schmalen Streifen auf das gleißende Gold der Trompeten, das tiefe Schwarz der Pauken und das siegreiche Silber der Tschinellen.[1]

So imaginiert der fünfzehnjährige Carl Joseph von Trotta in Joseph Roths Roman Radetzkymarsch den idealtypischen Heldentod für seinen Kaiser, den er früher oder später zu erleiden überzeugt ist; tatsächlich auch kommt der Hauptakteur am Ende des Romans als junger Leutnant auf einem Schlachtfeld des gerade ausgebrochenen Ersten Weltkriegs um. Jedoch stirbt er „nicht mit der Waffe, sondern mit zwei Wassereimern in der Hand.“[2] Stirbt so ein Held?

In der umfangreichen Literatur zum Werk Joseph Roths finden sich, wie sich noch zeigen wird, die gegenläufigsten Meinungen, was die Interpretation des Todes von Carl Joseph von Trotta anlangt.

Scheible[3] hat darauf hingewiesen, dass dieser Tod nicht isoliert, sondern nur im Kontext der ganzen Lebensumstände und des Werdegangs des Leutnants gedeutet werden kann. Dem ist zuzustimmen, wenn man unterstellt, dass in Roths Hauptwerk[4], das dessen „seelische Obsession“[5] – nämlich den Untergang seiner geliebten Heimat, der alten Habsburger-Monarchie – zum Thema hat, der schon ziemlich zu Anfang des Romans angedeutete Tod des maßgeblichen Protagonisten nicht irgendeine Episode darstellen kann, sondern in einem übergeordneten Zusammenhang innerhalb des Werks konstituiert sein muss.

Es wird also im Rahmen dieser Arbeit unter anderem zu klären sein, welche Bedeutung die k. u. k. Monarchie für die Familiengeschichte derer von Trotta hat, inwieweit Carl Joseph dadurch geprägt ist bzw. welche anderen Determinanten für seine Persönlichkeit noch vorliegen und inwiefern das in seinem Denken, Fühlen und Handeln Niederschlag findet.

In einem zweiten Schritt sollen die im Roman wiederkehrenden Motive auf ihre Funktion hin untersucht werden, um in einem dritten Abschnitt zu prüfen, ob und inwieweit eigene Ansichten Roths, sowohl persönlicher als auch politischer Art, im Roman auszumachen sind.

Schließlich soll vor dem Hintergrund der widerstreitenden Forschungsmeinungen der Tod des Leutnant Carl Joseph von Trotta diskutiert werden.

II. Carl Joseph zwischen Familie, persönlichem Umfeld und Historie

1. Die k. u. k. Monarchie

Nachdem der Großvater von Carl Joseph 1859 dem Kaiser Franz Joseph I. bei der Schlacht von Solferino (welche im übrigen eine militärische Niederlage für die k. u. k. Armee markiert) das Leben gerettet hat, wird er in den Adelsstand erhoben. Für die aus einfachen Verhältnissen aus Slowenien stammende Familie bedeutet das eine Zäsur. Sie wird gleichermaßen aus der Peripherie der Kronländer des Reiches herausgelöst („losgelöst war der Hauptmann Trotta von dem langen Zug seiner bäuerlichen slawischen Vorfahren“[6] ) und innerhalb des Gefüges der Donaumonarchie in Richtung des Zentrums und somit auch hierarchisch weiter nach oben gerückt.[7]

Carl Josephs Vater (ein Bezirkshauptmann) schon ist vollständig assimiliert[8], während sich der Großvater wieder in die Bäuerlichkeit und Einfachheit seiner Vorfahren zurückzieht. Der Vater ist im Grunde zur Gänze „längst entprivatisiert und ausschließlich zum Träger seines Amts im System geworden“[9], in dem er dem Kaiser dient so wie ihm sein Diener dient[10]. Sogar äußerlich gleicht er sich immer mehr dem Kaiser an, der Bezirkshauptmann und der Kaiser verschmelzen gewissermaßen zu einer indifferenten Vaterfigur[11] für den jungen Carl Joseph. Die Tat des Großvaters und die durch den Vater vermittelte strikte Welt des Dienens bestimmen somit das Erbe, das Carl Joseph anzutreten hat, wobei er des Großvaters Heldentat als höchste „Erfüllung einer Vasallenexistenz“[12] deutet, was wiederum dazu führt, dass er sich selbst einem Anspruch ausliefert, dem er nicht gerecht werden kann („Ich hab’ keine Gelegenheit, ihm das Leben zu retten; leider!“[13] ) und an dem er verzweifeln muss. Der Großvater wird somit zu einem „Über-Ich“[14], in dessen Schatten er von Beginn an steht[15]. Der Held von Solferino „ist der leuchtende Stellvertreter aller Großväter; die Enkel dagegen sind die Nachkommen einstiger Herrlichkeit. Jene bilden den unerreichbaren Maßstab, an dessen Größe sich die kleiner geratenen Enkel unentwegt messen.“[16]

D. h. für diesen jungen Offizier, dessen Existenz so sehr verwoben ist mit der Monarchie, sogar mit der Person des Kaisers persönlich, ist der bevorstehende (und schon zu erahnende) Ruin des Reiches gleichbedeutend mit dem Ruin der eigenen Existenz[17]. „Nach dem Tode des Kaisers verlieren die Trottas einigermaßen ihre Existenzberechtigung“[18]. Die Erhebung in den Adelsstand also verbindet die Trottas auf Gedeih und Verderb mit dem Schicksal der Monarchie und begründet somit ihren Untergang.[19] „Monarchie, Kaiser und Carl Joseph von Trotta lösen sich in einer schicksalhaften Identität auf.“[20] Vor diesem (erweiterten) Hintergrund muss auch ein Franz Ferdinand Trotta in der Kapuzinergruft angesichts des Anschlusses Österreichs an Nazi-Deutschland resignieren: „Wohin soll ich, ich jetzt, ein Trotta?...“[21]

2. Die sozialen Kontakte Carl Josephs

„Die Menschen des Romans leben in erschreckender Einsamkeit“[22], das gilt vor allem für Carl Joseph, dem Bronsen eine seelische „Obdachlosigkeit“[23] attestiert: er gehört im Grunde nirgends dazu, was er mit vielen Figuren Roths gemeinsam hat[24]. Das Verhältnis zu seinem Vater ist kühl, distanziert und findet seine Entsprechung in dem formelhaften „Jawohl, Papa!“[25], das sich wie ein roter Faden durch die gesamte Kommunikation Carl Josephs mit seinem Vater zieht[26].

Weder im Kreise seiner Kameraden (mit Ausnahme des Dr. Demant) gelingt es ihm, sich heimisch zu fühlen

Diese Witze! Diese Anekdoten, bei denen alle sofort erkannten, ob man aus Gefälligkeit mitlachte oder aus Verständnis! Sie schieden die Heimischen von den Fremden. Wer sie nicht verstand, gehörte nicht zu den Bodenständigen. Nein, nicht zu ihnen gehörte Carl Joseph![27] und schon gar nicht in der zivilen Welt:

Tag für Tag bereitete es dem Leutnant unsagbare Pein, in klirrender Buntheit zwischen den dunklen Zivilisten aufzutauchen...[28]

Auch seine Kontakte zu Frauen sind entweder von Leiderfahrung (Frau Slama) oder von gegenseitigem Missverständnis (Frau von Taußig) geprägt.

Carl Joseph ist somit ein Suchender typisch Roth’scher Prägung[29] ; er sucht nicht nur nach einem Platz in der Welt und im Leben, sondern vor allem ist er auf der Suche nach sich selbst, nach „einem eigenen Ich“[30], abseits von Erwartungen und Ansprüchen, die aber nicht zuletzt er selber an sich stellt – angesichts des schier übermächtigen Großvaterbildes und aufgrund eines anerzogenen Pflichtbewusstseins („Was ist Subordination?“[31] fragt den Knaben einmal plötzlich misstrauisch forschend der Vater), das persönliche Bedürfnisse kategorisch den Interessen des Staates unterordnet.

[...]

[1] Joseph Roth: Radetzkymarsch, Kiepenheuer& Witsch, Köln 1999, S. 28.

[2] Roth, Radetzkymarsch, S. 313.

[3] Hartmut Scheible: Joseph Roth. Mit einem Essay über Gustave Flaubert. Stuttgart et al. 1971 (= Studien zur Poetik und Geschichte der Literatur; Bd. 16), S. 125.

[4] So Hartmut Scheible: Joseph Roths Flucht aus der Geschichte. – In: Joseph Roth. Text und Kritik; Sonderband (hrsg. v. Heinz Ludwig Arnold). München 1982, S. 56.

[5] Helmuth Nürnberger: Joseph Roth in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek bei Hamburg 1981 (= romo; 301), S. 88.

[6] Roth, Radetzkymarsch, S. 12.

[7] Gar von einer „Germanisierung“ der Familie spricht Roman S. Struc: Die slawische Welt im Werke Joseph Roths. – In: Joseph Roth und die Tradition. Aufsatz- und Materialiensammlung (hrsg. v. David Bronsen). Darmstadt 1975 (= Schriftenreihe Agora; Bd. 27), S. 327.

[8] „Assimilierungssüchtig“ nennt ihn Klaus Zelewitz: Beim Lesen von Roths Romanen Radetzkymarsch und Die Kapuzinergruft. Warum sind die Trottas Slowenen? – In: Zagreber Germanistische Beiträge 2 (1993), S. 101.

[9] Zelewitz, Beim Lesen, S. 100. Vgl. auch Adolf D. Klarmann: Das Österreichbild im „Radetzkymarsch“. – In: Joseph Roth und die Tradition. Aufsatz- und Materialiensammlung (hrsg. v. David Bronsen). Darmstadt 1975 (= Schriftenreihe Agora; Bd. 27), S. 157.

[10] Als „typbildend hinter allen hierarchisch und psychologisch auf ihn hingeordneten Figuren“ sieht Friedrich Abendroth: Reichs- und Bundesvolk – Das zweifache Zeugnis des Joseph Roth. – In: Joseph Roth und die Tradition. Aufsatz- und Materialiensammlung (hrsg. v. David Bronsen). Darmstadt 1975 (= Schriftenreihe Agora; Bd. 27), S. 92, den Kaiser Franz Joseph.

[11] Krzysztof Lipinski: Seine Apostolische Majestät. Zum Bild des Kaisers bei Joseph Roth. – In: Die Schwere des Glücks und die Größe der Wunder. Joseph Roth und seine Welt. Beiträge bei einer Tagung der evangelischen Akademie Baden vom 4. – 6. Februar 1994 in Bad Herrenalb (hrsg. v. Evangelische Akademie Baden). Karlsruhe 1994 (= Herrenalber Forum; Bd. 10), S. 101.

[12] Thomas Düllo: Zufall und Melancholie. Untersuchungen zur Kontingenzsemantik in Texten von Joseph Roth. Münster und Hamburg 1994 (= Zeit und Text; 5) (zgl. Diss. Phil. Münster 1991), S. 255.

[13] Roth, Radetzkymarsch, S. 77.

[14] Vgl. dazu Düllo, Zufall und Melancholie, S. 245; Maud Curling: Joseph Roths ‚Radetzkymarsch’. Eine psycho-soziologische Interpretation. Frankfurt am Main und Bern 1981 (= Literatur & Psychologie; Bd. 5 und = Europäische Hochschulschriften; Reihe 1, Bd. 381), S. 40; David Bronsen: Joseph Roth. Eine Biographie. Köln 1974, S. 402.

[15] Petra Klass-Meenken: Die Figur des schwachen Helden in den Romanen Joseph Roths. Aachen 2000 (zgl. Diss. Phil. Trier 1999), S. 79.

[16] David Bronsen: Das literarische Bild der Auflösung im Radetzkymarsch. – In: Joseph Roth. Werk und Wirkung (hrsg. v. Bernd M. Kraske). Bonn 1988 (= Sammlung Profile; Bd. 32), S. 11.

Für Rudolf Koester: Joseph Roth. Berlin1982 (= Köpfe des XX. Jahrhunderts; Bd. 96), S. 64, ist Carl Joseph „lediglich ein dekadenter Epigone des Helden von Solferino“ und Wolfgang Müller-Funk: Joseph Roth. München 1989 (= Beck’sche Reihe Autorenbücher; 613), S. 95, nennt ihn ein „gelähmtes Gegenbild zum Großvater“. Vgl. dazu auch Düllo, Zufall und Melancholie, S. 245.

[17] Vgl. dazu Helmut Famira-Parcsetich: Die Erzählsituation in den Romanen Joseph Roths. Bern und Frankfurt. 1971 (= Kanadische Studien zur deutschen Sprache und Literatur; No. 2), S. 92f.; Struc, Die slawische Welt, S. 329.

[18] Lipinski, Seine Apostolische Majestät, S. 102.

[19] Fritz Hackert: Joseph Roth: Radetzkymarsch (1932). – In: Deutsche Romane des 20. Jahrhunderts. Neue Interpretationen (hrsg. v. Paul Michael Lützeler). Königstein/ Taunus 1983, S. 186.

[20] Martha Wörsching: Die rückwärts gewandte Utopie. Sozialpsychologische Anmerkungen zu Joseph Roths Roman „Radetzkymarsch“. – In: Joseph Roth. Text und Kritik; Sonderband (hrsg. v. Heinz Ludwig Arnold). München 1982, S. 97.

[21] Joseph Roth: Die Kapuzinergruft, Kiepenheuer& Witsch, Köln 1999, S. 129.

[22] Famira-Parcsetich, Die Erzählsituation, S. 98. Vgl. auch Ursula Reidel-Schrewe: Im Niemandsland zwischen Indikativ und Konjunktiv. Joseph Roths Radetzkymarsch. – In: Modern Austrian Literature Vol. 24, No. 1 (1991), S. 60.

[23] Bronsen, Bild der Auflösung, S. 12.

[24] Hugo Dittberner: Über Joseph Roth. – In: Joseph Roth. Text und Kritik; Sonderband (hrsg. v. Heinz Ludwig Arnold). München 1982, S. 28.

[25] Roth, Radetzkymarsch, S. 26.

[26] Vgl. dazu Dittberner, Über Joseph Roth, S. 20f.

[27] Roth, Radetzkymarsch, S. 72.

[28] Roth, Radetzkymarsch, S. 67.

[29] Vgl. dazu Michael Nüchtern im Vorwort zu Die Schwere des Glücks und die Größe der Wunder, S. 8.

[30] Wörsching, Utopie, S. 95. Vgl. dazu Reidel-Schrewe, Im Niemandsland, S. 64.

[31] Roth, Radetzkymarsch, S. 27.

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